Bedenke folgendes (Edelman 1987):
Erlernte Haltungs- und Bewegungsfunktionen sind in komplexen Netzwerken zerebral fixiert, und hierin sind Bewegung und Wahrnehmung untrennbar miteinander verflochten.
Die Fixierung betrifft
- die Abstimmung aller kinetisch erforderlichen Einstellungen aufeinander und
- die Ankopplung dessen an alle wichtige Umgebungsaspekte.
Die Wahrnehmung ist nicht mehr analytisch und nicht mehr objektivierend:
Nicht die Umgebung an sich wird wahrgenommen (dieses und jenes, hier und da), sondern an der Umgebung wird im Körper die jetzt erforderliche Haltung und Bewegung wahrgenommen.
Nun denn:
Bei einer persistenten exzentrischen Überwachungsfunktionalität wird in diese komplizierte Netzwerke „eingebrochen“, wodurch das authentische Wahrnehmen gestört wird, da man objektivierend auf falsche Signale aufpasst. Hierdurch wird das Muskel-Skelett-System kinetisch falsch benutzt. Unterdessen hält die (meistens unbewusste) Unsicherheit den Stressapparat in chronischer Erregung. Auf diese Weise entsteht eine vielgestaltige somatische Zerrüttung.
Die Effekte dieser somatischen Zerrüttung werden in taktilen Kommunikationsformen deutlich, (obwohl sehr schwierig) wahrnehmbar an den Reaktionen von Gewebe und Skelettsegmenten.
Cees de Graaf wird solche Observationen eingehend beschreiben.
In den entstehenden Teufelskreisen sind Schmerzen der wichtigste Motor und der auffallendste Effekt.
14a)
Das Vorhergehende führt zu einer Idee eines selbständigen, autonom gewordenen Chronizitätszirkels: Authentische nociceptive Schmerzerfahrung (anfangs vielleicht gar nicht so schlimm) führt zu einer Überwachungsposition, die eine persistente exzentrische Positionalität in Haltung und Bewegung aufgreift, wodurch schnell mehrere Gewebe nicht länger „ihr Eigenleben führen“, sondern gelebt werden.
Die persistente Lenkung verursacht Anpassungsreaktionen, hierdurch können allerlei somatische Teufelskreise entstehen, sowohl im physiologischen als auch im mikro-anatomischen Bereich.
Durch diese Teufelskreise werden wiederum allerlei Formen von authentischer Nociception verursacht und auch bestätigt, so dass der Chronizitätszirkel anfängt sich zu drehen.
Eine grobe Andeutung von Elementen in den somatischen Teufelskreisen ist bereits am Anfang dieses Vortrags gemacht worden:
- unfunktionelle Muskelspannungen
- unfunktioneller Stand von Bewegungssegmenten
- Gewebeanomalien
- Autonome Reaktionen darauf
- Gestörte zerebrale Netzwerke
- Humorale Deregulierung(wobei eine gestörte Endorphinenregulierung möglicherweise
wichtig ist )
14b)
Wie gerät man in diesen Chronizitätszirkel?
Schematisch (und unzureichend nuanciert) könnte man dies wie folgt darstellen:
Der Eingang zum Chronizitätszirkel ist meistens im Bereich eines „locus minoris resistentiae“ (= Ort des geringsten Widerstandes) gegeben.
Das heißt in diesem Kontext: niedrig-qualitative, verletzbare Bewegungssegmente.
Auch die Spezifität der sog. psycho-somatischen Empfindung wird meistens zu einer Frage des locus minoris resistentiae.
Dort kann Nociception entstehen, sowohl von einer psychosozialen Belastung als auch von einer physischen Überbelastung aus oder durch irgendeinen Unfall.
Eine wichtige Funktion hat hierbei die allgegenwärtige Ausdrucksfunktion von Haltung und Bewegung, wodurch Stresserlebnisse leicht zu einer gebückten, gedrückten, nicht kommunikativen Haltung und Bewegung führen können. In dieser nicht kommunikativen Einstellung steckt schon ein sicherer Verlust von zentrischer Positionalität.
Bei physischer Überbelastung oder bei einem Unfall wird das primäre Schmerzereignis selbstverständlich nicht immer an den locus minoris resistentiae angreifen. Dann besteht ein unmittelbarer Eingang in den Chronizitätszirkel.
14c)
Neue Teufelskreise
Von größter Wichtigkeit ist, dass dieser Chronizitätszirkel selbst wieder neue Teufelskreise entstehen lässt, laufend über psychosoziale Folgen, über die Ausdrucksfunktion und über den „locus minoris resistentiae“.
Es sind diese Teufelskreise, welche uns verdeutlichen, dass vieles, was in der verhaltenspsychologischen Näherung als Ursache der Chronizität angesehen werden, vielmehr als deren Folge betrachtet werden muss.
(Hier stehen nur Korrelationskoeffizienten zur Verfügung, die nie und nimmer über Kausalitätsfragen Aufschluss geben.)